Es gibt für Alles ein erstes Mal.
Das erste Mal als Sportpsychologe und Betreuer bei einem Ultracycling-Rennen dabei.
Philipp Kaider startet zum ersten Mal beim Race Around Austria 1500 im Einzelbewerb.
Philipp Kaider musste ein Rennen zum ersten Mal vorzeitig abbrechen.

Aber der Reihe nach.

14.8.2019

Start des Race Around Austria 1500 ist in St. Georgen im Attergau.
Am Nachmittag angekommen, gilt es noch die Kinesiotapes zu erneuern und mit dem Pacecar zur Wartezone zu fahren. Verpflegung für die erste Schicht wird gekauft und der Athlet mit gezielter Wettkampfvorbereitung auf Betriebstemperatur gebracht. Die Anspannung ist spürbar. Die Vorfreude auf das Saisonhighlight da. Das Ziel für das Race Around Austria 1500 ist klar: Streckenrekord in 58 Stunden.

Der Start ins Rennen erfolgt um 18:48 Uhr. Kurz nach Beginn eine Schrecksekunde mit einem Hasen. Da hätte das Rennen bereits wieder zu Ende sein können.
Noch vor Mitternacht hat Philipp einen Vorsprung herausgefahren, der stetig anwächst.
Es läuft gut, er ist weit vor der geplanten Zeit.

15.8.2019

Die Nachtstunden im Waldviertel sind einsam. Vor allem die Zeit zwischen 2 und 4 Uhr, bevor es dämmert, sind mühsam und es braucht Unterhaltung und Austausch mit dem Betreuerteam. Die Zeiten der Konkurrenz werden rückgemeldet und helfen die Motivation beizubehalten. Am Morgen gegen 8 Uhr erfolgte der erste Teamwechsel. Ein komfortabler Vorsprung auf das restliche Feld wird sichtbar und die Euphorie breitet sich aus – es läuft sehr gut.

Wir machen uns auf den Weg ins Burgenland. Die nächste Übergabe ist am Nachmittag bei Rust geplant. Nach einer kurzen Schlafpause sind wir früher als geplant im Einsatz. Philipp ist nach wie vor sehr schnell unterwegs. Müdigkeit scheint immer noch kein Thema zu sein. Die Motivation ist da. Familienmitglieder und Freude sind beim Teamwechsel vor Ort. Der Glaube an den Streckenrekord wird dadurch zusätzlich bestärkt. Wir machen uns auf den Weg nach Halbenrain. Dort ist die erste Schlafpause von Philipp geplant. Kurz vor Mitternacht sind wir vor Ort. Philipp ist mittlerweile 40 Stunden wach – eine Tatsache, die für den Verlauf des Rennens entscheidend werden sollte.

16.8.2019

Ich und meine Teamkollegen legen sich in der Turnhalle kurz schlafen und machen uns um 4 Uhr morgens wieder auf den Weg Richtung Steiermark. Wir warten nach der Abtei und sehen am Livetracker, dass der Vorsprung etwas kleiner wird. Beim Teamwechsel um 8 Uhr bekommen wir die Info, dass es zäh war. Äußerst zäh. Das Team hat in der Nacht schon einige Laufeinheiten hingelegt, um Philipp anzutreiben. Die anstrengenden Etappen stehen aber noch bevor. Jetzt heißt es unterstützen und aufbauen wo es nur geht. Kreativität ist gefragt. Mit Updates von Social Media Kommentaren, Musik, Gerüchen, Spielen, Witzen wird der Tag zu einer Herausforderung für das Team.

Philipp`s Müdigkeit wird stetig sichtbarer, jedoch hält er seinen Vorsprung und der Streckenrekord ist in Reichweite. Das Lesachtal wird zu einem Rennen im Rennen. Eine Baustellenampel am Ende des Tals schaltet nur zweimal in der Stunde für 5 Minuten auf grün. Die Zielzeit wird festgelegt. Wir schaffen es auf den Punkt. Merkbar ist, dass es Philipp schwerer fällt die Leistung zu bringen. Vielleicht ist dieser Erfolgsmoment aber Motivator.

Kurz nach Liezen treffen wir das erste Mal auf das offizielle Filmteam. Es scheint nicht nur mit der Strecke, sondern auch mit der Stimmung, der Motivation, der Kraft bergauf zu gehen.
Ein Flow-Erlebnis! Den ganzen Tag war es mühsam, jetzt läuft es wie von allein. Die Zuversicht ist da, dass der Glockner bezwungen und die letzten 300 km zum Ziel bewältigt werden.

Wir legen eine kurze Pause, nach dem Teamwechsel am Iselbsberg, ein. Der nächste Teamwechsel ist erst nach dem Glockner in den Morgenstunden geplant. Es kommt anders…

16.8.2019 | Großglockner

Wir fahren dem Pacecar nach und müssen erkennen, dass wir uns zu früh über den Leistungssprung gefreut haben. Philipp braucht eine Pause. Die Nacht bricht an und vor der Auffahrt wird ein Powernap eingelegt. Es kommen erste Zweifel auf, ob das Rennen erfolgreich weitergehen kann.

Die Auffahrt zum Glockner wird auch für mich und die anderen Betreuer_innen zur körperlichen Belastung. Permanent wird Philipp von uns an den Glocknerman, das Race Around Slovenia erinnert. Lautstark wird auf die Trittfrequenz bestanden. Es kommt wenig zurück. Philipp tut sich schwer. Er sucht Ausreden, um stehen zu bleiben. Es darf keine Ausreden geben, wenn wir gewinnen wollen. Das ist das Ziel.

Oben am Hochtor eine kurze Verschnaufpause. Es ist sehr emotional. Ich werde den Gedanken nicht los, dass Philipp jetzt entscheidet, dass das Rennen vorbei ist.
Obwohl einige Fans oben warten und ihm anfeuern. Es scheint keine Wirkung zu haben. Der Wille fängt an, der Müdigkeit nachzugeben.

17.8.2019

Wir versuchen die Abfahrt. Doch Philipp schläft am Rad ein und ein weiterer Powernap ist notwendig. Die anderen Fahrer holen sukzessive auf. Es wird eng. Nach 10 Minuten wird Philipp geweckt und er sitzt wieder am Rad. Die Abfahrt funktioniert, allerdings mit großer Anspannung.

Philipp scheint wieder Kraft zu haben, aber nach ungefähr 30 Minuten wird eine erneute Schlafpause notwendig. Kurz vor dem Hochkönig fahren beide Begleitfahrzeuge zur Seite. Wir diskutieren, wie es weitergehen soll. Schafft er den Willen aufzubringen und weiter zu machen? Wenn diese Pause nicht wirkt, ist das Rennen gelaufen, die Müdigkeit hätte gewonnen.

Wir starten in Richtung Hochkönig. Aus dem Vorsprung von 3 Stunden sind 5 Minuten geworden. In der Dunkelheit sind die Drehlichter der Verfolger zu erkennen. Kann diese Tatsache zusätzliche Motivation bewirken? Philipp reagiert nicht mehr auf Zurufe und Anweisungen. Wir kommen am Hochkönig an, doch in der Abfahrt wird uns klar, dass eine weitere Pause notwendig ist.

17.8. | 58 Stunden nach dem Start

Wir fahren kurz vor Bischofshofen in eine Parkbucht. Es ist klar, dass diese Schlafpause nichts bringen wird. Egal ob 20 Minuten oder 4 Stunden, der Körper ist ausgelaugt, zu erschöpft und müde um weiter zu machen.
Die Verfolger überholen uns. Die Frage stellt sich, ob wir Philipp wieder ins Rennen lassen sollen.
Wir entscheiden uns das Rennen aufzugeben. Wir können es nicht zu verantworten ihm in diesem Zustand auf die Straße zu schicken.

Wir lassen Philipp schlafen. Das Race Around Austria ist vorbei! Die Enttäuschung und Betroffenheit bei allen ist spür- und sichtbar.

Was war der Grund für die Müdigkeit? Hätten wir etwas anders machen können/müssen? Haben wir uns richtig entschieden? Wie geht es weiter?

22.8.2019

Wir finden erste Antworten. Im persönlichen Nachgespräch eine Woche später wird das Rennen analysiert. Fehler werden benannt, Verbesserungsvorschläge liegen auf dem Tisch. Genauso wie die Ziele für das nächste Jahr.

Das erste Mal hat Philipp ein Rennen nicht beendet, ein wichtiger Punkt in seiner Karriere.
So wie es Eloise Ristad sagt: „Wenn wir uns erlauben, zu scheitern, erlauben wir uns gleichzeitig, uns selbst zu übertreffen.“ Das RAA 2020 kann kommen.