„Turtle on Fire“ – ein (nicht ganz wissenschaftlicher) sportpsychologischer Rückblick auf das RAA 2022
Philipp Kaider absolvierte das Race Around Austria (RAA) 2022 in 3 Tagen 21 Stunden und 32 Minuten.
Am Ende belegte der Platz 2 bei seinem ersten Antritt über die volle Distanz des österreichischen Ultra-Cycling-Klassikers.
Ich durfte ihn auf dieser Reise, als Teil seines Betreuerteams begleiten, und meinen sportpsychologischen Horizont um wertvolle Erfahrungen erweitern.
Ausgangslage
Die Vorbereitung in dieser Saison verlief nicht nach Wunsch.
Ich telefonierte mit Philipp Ende März, der „keine guten Nachrichten“ hatte.
Traurigkeit und Frust, krochen quasi durchs Telefon. Gleichzeitig war da jedoch eine positive Tendenz wahrzunehmen.
Nämlich den Umstand so hinzunehmen und das Beste daraus zu machen: wieder gesund zu werden.
Der Rest passiert dann von allein.
Aufgrund der notwendigen Bandscheiben-OP im April war der angestrebte Jahresplan nicht mehr umzusetzen.
Das Race-Around-Niederösterreich und ein Weltrekordversuch wurden abgesagt und die Teilnahme am RAA war fraglich. Ebenso die geplante Teilnahme bei der 24-Stunden-Weltmeisterschaft in Kalifornien.
Das Rennen
Es folgt ein subjektiver Rennbricht, mit dem Versuch authentisch und wahrheitsgemäß zu beschreiben, wie sich das RAA 2022 für Philipp Kaider gestaltet hat. Im Anschluss möchte ich meine Erlebnisse anhand von Erkenntnissen aus der wissenschaftlichen Literatur einordnen.
Einen weiteren Rennbericht gibt es hier.
Tag 1, Dienstag, 9.8.2022 | Aller Anfang ist schwer
Start und Ziel des RAA ist St. Georgen im Attergau.
Philipp startete mit Nummer 2 in Block A. Das bedeutete um 20:30 Uhr.
Das erklärte Ziel war es ins Ziel zu kommen. Die dafür notwendige Zeit und die dementsprechende Platzierung nebensächlich.
Leichter gesagt als getan – wenn man als Nummer 2 an den Start geht, gehört man zum Favoritenkreis.
Da muss man einmal die ganze Zeit erfolgreich tiefstapeln und sich gegen den motivationalen Reiz des Sieges wehren.
Die Nacht war geprägt von Unmut über fehlende Leistung, Müdigkeit, Bauchschmerzen.
Normalerweise geht das weg. Diesmal zog es sich jedoch bis in den nächsten Morgen.
Die Zeiten im Vergleich zum direkten Konkurrenten Sebastian Michetschläger (dem späteren Gewinner) waren jedoch in Ordnung. Da das Rennen noch lange dauerte, war diese Tatsache die naheliegendste Motivationsquelle für das Betreuerteam.
Tag 2, Mittwoch, 10.8.2022 | Unverhofft kommt oft
Als wir beim Teamwechsel gegen 8 Uhr im Waldviertel zum ersten Mal Philipp von Vorne sahen, hatten wir Zweifel, ob wir es ins Ziel schaffen werden.
Es hatte sich viel Wasser im Körper eingelagert (wir waren mit der Flüssigkeitszufuhr in der Nacht zu großzügig), sein Blick und seine Mimik (die aufgrund der Wassereinlagerung schwer zu deuten war) sprachen Bände der Niederlage.
Der Körper von Philipp signalisierte alles andere an Zuversicht, Durchhaltevermögen oder Ansporn.
Meine beiden Kollegen und ich machten uns auf den Weg ins Burgenland, wo wir am Nachmittag wieder übernehmen sollten.
Kurz vor Mittag angekommen folgender Anruf: „Des Pace-Car hot an Potschn. Da Philipp foat alanich weida.“ (Deutsch: „Das Begleitfahrzeug hat eine Reifenpanne. Philipp fährt alleine weiter.“)
WTF?
„Dafür ist er jetzt munter“ – das Gute im Schlechten.
Müdigkeit und Ärger waren nicht mehr zu spüren und Philipp fuhr „unsupported“ durchs Weinviertel.
Den Streckenabschnitt kennt er auswendig und ein Ersatzfahrzeug war Dank der Hilfe des Hauptsponsors aus Laa/Thaya ebenso schnell organisiert wie die Reparatur des Pace-Cars.
Also doch noch kein ein Worst-Case-Szenario – das Gute im Schlechten.
Wir übernahmen Philipp gut gelaunt in Rust.
Als wir über den Tag und seine Erlebnisse sprachen erzählte ich ihm Äsops Fabel vom Hasen und der Schildkröte.
Eine schöne Geschichte, die gut in Philipps eigene zukünftige Renngeschichte passen sollte.
Wir begleiteten ihn bis Halbenrain, wo wir gegen Mitternacht ankamen.
Davor wurde auch die erste Schlafpause eingelegt. Im Nachhinein betrachtet war sie vermutlich zu spät und zu kurz.
Tag 3, Donnerstag, 11.8.2022 | Halbzeitshow
Wir schliefen auf der Abtei und waren gegen 6 Uhr bereit auf die Übernahme.
Vom anderen Team kam die Info, dass die Nacht nicht gut gelaufen war.
Philipp hatte zwar wieder kurz geschlafen, jedoch war die Leistung weit weg von Ideal und die Müdigkeit ging nicht weg.
Wir stellten uns also auf eine Schlafpause bei der Übergabe ein und bereiteten alles vor.
Zu unserer Überraschung fuhr Philipp an uns vorbei – absichtlich, wie sich herausstellt.
Er wolle doch nicht schlafen.
Irgendwie hatte sich Ärger in kräftige Pedaltritte verwandelt.
Wir übernahmen also auf der Abtei und fuhren mit Philipp durch Kärnten, wo wir im Lesachtal eine Schlafpause absolvierten. Diesmal wirklich. Und am Abend in Winklern war Philipp gut drauf.
Um Haaresbreite wäre das Rennen hier zu Ende gewesen.
Kurz nach der Übergabe kam es auf einer Kreuzung fast zu einer Kollision – vom Betreuerteam bekam das keiner mit – wir waren gerade im Wechsel begriffen. Nur über den Funk hörten wir Philipp zuerst Schreien und dann ein „Danke“ an alle guten Geister ausrichten, dass er doch weiterfährt.
Auf den Großglockner ging es dank attraktiver Begleitung in Rekordtempo hinauf und wir warteten in Hall auf unseren nächsten Einsatz.
Tag 4, Freitag, 12.8.2022 | Harte Bandagen
In den frühen Morgenstunden wieder im Pace-Car stand die Etappe durchs Kühtai, über die Silvretta bis nach Bludenz auf dem Programm.
Die Nacht war wieder zäh und Philipp tat sich schwer. Auch sein Nacken begann nun wieder Probleme zu machen. Schon wie im Jahr zuvor, wo er beim RAA 1500 kurz vor Schluss mit dem Shermer‘s Neck zu kämpfen hatte.
Der Unterschied: 2021 noch 100 Kilometer ins Ziel -> 2022 noch rund 700 Kilometer
Wir mussten also auf die Halskrause aus dem Erste-Hilfe-Reportoire und einige Schmerzmittel zurückgreifen.
Die Halskrause half die nächsten Kilometer zu überstehen und erfüllte auch motivationale Aspekte.
Der Anblick eines Radfahrers, der mit Halskrause und Strohhalm seine flüssigen Kohlehydrate schlürft, hat schon was für sich.
In Ischgl hats eine Dame fast vom Sessel geschmissen.
Wir übergaben Philipp und fuhren bis zum Fernpass, wo eine entscheidende Nacht auf uns warten sollte.
Tag 5, Samstag, 13.8.2022 – Schildkröte, lass den Kopf nicht hängen oder „Die Kaider-Position“
Wir waren gegen 2 Uhr im Einsatz und das andere Betreuerteam hatte mit Philipp schwer zu kämpfen gehabt. Er resignierte, war mürrisch, schlecht gelaunt, die Nackenschmerzen machten ihn zu schaffen und die Müdigkeit ließ ihn immer wieder auf dem Rad für ein paar Sekunden einschlafen.
Wir übernahmen Philipp nach einer 45-minütigen Schlafpause kurz vor Reutte in Tirol.
Die Route führt über den Fernpass – nicht gerade eine Nebenstraße mit wenig Verkehr.
Philipp kam nicht ins Fahren.
Ich lief neben ihm her, als er über Funk kaum mehr auf unsere Ansprache reagierte.
Er wollte schlafen.
Wir entschieden uns für eine Schlafpause. Philipp war nicht in der Lage auf dem Rad zu sitzen, geschweige denn über einen Berg zu fahren. Uns war klar: es mussten mindestens 2-3 Stunden Schlaf sein.
Wenn er danach aufwachte und wieder von sich aus aufs Rad stieg, war das Ziel ins Ziel zu kommen möglich.
Philipp schlief 2,5 Stunden und gegen 5 Uhr saß er wieder auf dem Rad.
Beim Aufwachen war seine Antwort auf die Frage „Willst Radlfoan?“, „JA!“
Also machten wir uns auf den Weg.
Philipp wollte natürlich wissen, wieviel Zeit wir eingebüßt hatten und an welcher Position er nun lag.
Er war zu diesem Zeitpunkt an 3. Stelle und ca. 80 Minuten hinter Platz 2.
Philipp weinte, als er das hörte.
Wir versuchten ihn weg vom Ergebnis zu bringen und auf das Ankommen im Ziel zu fokussieren.
Ich weiß nicht, wie es geschah, doch als es passierte, wusste ich, dass wir als 2. Ins Ziel kommen werden
Philipp erfand die „Kaider-Position“:
Da er noch immer Nackenscherzen hatte und den Kopf kaum mehr halten konnte, musste er eine Alternative zur Halskrause finden, die er nicht mehr tragen wollte.
Er stützte sich mit einem Ellbogen auf einen Aufleger und so konnte er mit einer Hand seinen Kopf halten und mit der anderen den Radlenker. Noch dazu eine sehr aerodynamische Position, was sich in schnellen Durchschnittszeiten und einer unheimlichen Motivation und bemerkbar machte. Er war im Flow.
Die letzten 350 Kilometer bis ins Ziel spulte Philipp mit einer beeindruckenden Leichtigkeit ab, die uns alle mitriss und begeisterte.
Im Ziel angekommen wurde er für seine außergewöhnliche Leistung mit dem 2. Platz belohnt.
Die Schildkröte radelt weiter, der Sportpsychologe reflektiert
Nach einer kurzen Pause geht es für Philipp Kaider weiter mit der Vorbereitung auf die 24-Stunden-Weltmeisterschaft im November in Kalifornien.
Für mich als Sportpsychologen ergeben sich rückblickend folgende Erkenntnisse und Rückschlüsse anhand der psychologischen Literatur zu Extrem- und Risikosport:
Mental Toughness | Mentale Stärke
Das Konzept ist definiert als persönliche Fähigkeit durchgehend ein hohes Leistungsniveau in Bezug auf subjektive oder objektive Ziele zu erreichen, obwohl Unwägbarkeiten, Herausforderungen oder Störungen auftreten (Cooper et al., 2020).
Meine Beobachtung machte mir deutlich, dass Philipps Mentale Stärke seit dem Beginn meiner Begleitung vor gut vier Jahren ein höheres oder vielleicht resilienteres Niveau erreicht hat.
Das zeigte sich in seinen Reaktionen auf unvorhergesehene Ereignisse (Bandscheiben-OP, Reifenpanne, Shermer’s Neck) vor und während dem Rennen. Sie wird deutlich, wenn Philipp Ärger in Leistung verwandeln kann. Sie zeigt sich, wenn Philipp mit Halskrause fährt und selbst vor lauter Lachen aufgrund der Reaktionen der Passant*innen auf seine Schmerzen vergisst.
Daher ist die individuelle Betrachtung des Konzepts Mentale Stärke, wie sie Cooper et. al (2020) darstellen, nachvollziehbar.
Mentale Stärke ist nicht fix fertig eingebaut. Sie erlebt im Rennverlauf (und während des gesamten Jahres) Höhen und Tiefen. Sie wird durch unterschiedliche Ereignisse getriggert und zeigt sich, wenn es darauf ankommt.
Grit | Entschlossenheit
Grit wird in der Forschung zu Extrem- und Risikosport (Meckfessel & Ross-Stewart, 2022; Ionel et al., 2022) als Variable untersucht, die mit Leistungserbringung und Erfolg in Hinblick auf langfristige oder schwer erreichbare Ziele in Zusammenhang steht. Grit wird mit Tatendrang (drive) und Beharrlichkeit (persistence) assoziiert. Außerdem führt Grit dazu beständig an Herausforderungen zu arbeiten, Anstrengung und Interesse an einer Sache über lange Zeit beizubehalten und Rückschlägen, Fehlern und Stagnation im Fortschritt zu trotzen (Duckworth et al., 2007).
Grit besaß anscheinend auch Äsops Schildkröte.
Flow
Einige abschließende Gedanke zu Flow:
’Flow’ describes the experience of a unity of self, world and activity as a result of total absorption in an activity or situation (Willig C., 2008 p.27)
Manche Forscher sehen im Erreichen von Flow das Ziel und Zweck der Ausübung von Extrem- oder Risikosport.
Ein interessanter Aspekt in dieser Hinsicht ergibt sich aus der dialektischen Betrachtung unsers Daseins.
Gegensätze und “existenzielle Spannungen” (Spinelli, 2001) machen unser menschliches Dasein aus: Anfang/Ende, Einsamkeit/Zugehörigkeit, Tag/Nacht, Körper/Geist, Freiheit/Bestimmung, Schmerzen/Freude usw.
Auf den ersten Blick erscheinen sie gegensätzlich, doch sie ergänzen sich und das eine kann ohne das andere nicht sein. Beide Seiten stehen in Verbindung zueinander.
Schafft man es, dieser Erkenntnis zu folgen, dann nimmt man sich als eins und verbunden mit der Welt war. Und während eines Ultracycling-Rennens ist man mit einer Vielzahl von solchen Gegensätzen konfrontiert.
Als Philipp die letzten 350 Kilometer bis ins Ziel förmlich geflogen ist, war er – zumindest für mich und von außen betrachtet – im Flow. Er akzeptierte die Schmerzen und ärgerte sich nicht länger darüber, er konzentrierte sich aufs Fahrradfahren. Forschungen zum Umgang mit Schmerzen von Ultramarathonläufer*innen zeigen ein ähnliches Bild: Akzeptanz der Schmerzen als Teil des Sports und Fokus auf Schritte und Rhythmus (Simpson et al., 2014).
Kurz gesagt, Ultracycling ist eine durchaus außergewöhnliche Art, mit den existenziellen Spannungen unseres Lebens umzugehen, doch wenn es gelingt diese Reise zu wagen wird man mit außergewöhnlichen und einzigartigen Gefühlen, Emotionen und Erlebnissen belohnt.
Literatur
Cooper, K. B., Wilson, M. R., & Jones, M. I. (2020). A 3000-mile tour of mental toughness: An autoethnographic exploration of mental toughness intra-individual variability in endurance sport. International Journal of Sport and Exercise Psychology, 18(5), 607-621.
Duckworth, A. L., Peterson, C., Matthews, M. D., & Kelly, D. R. (2007). Grit: Perseverance and passion
for long-term goals. Journal of Personality and Social Psychology, 92(6), 1087–1101. https://doi.
org/10.1037/0022-3514.92.6.1087
Ionel, M. S., Ion, A., & Visu-Petra, L. (2022). Personality, grit, and performance in rock-climbing: down to the nitty-gritty. International Journal of Sport and Exercise Psychology, 1-23.
Meckfessel, M., & Ross-Stewart, L. (2022). Differences in psychological skills in ultraendurance athletes and endurance athletes. The Sport Journal, Vol. 24. https://thesportjournal.org/article/differences-in-psychological-skills-in-ultraendurance-athletes-and-endurance-athletes/?quot%3B%3BUnited
Simpson, D., Post, P. G., Young, G., & Jensen, P. R. (2014). “It’s not about taking the easy road”: The experiences of ultramarathon runners. The Sport Psychologist, 28(2), 176-185.
Spinelli, E. (2001) The Mirror and the Hammer. Challenges to Therapeutic Orthodoxy. London: Continuum.
Willig, C. (2008). A phenomenological investigation of the experience of taking part in ‚Extreme Sports‘. Journal of Health Psychology, 13(5), pp. 690-702. doi: 10.1177/1359105307082459